Aus der Zeit (1998-2003/2005)

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Verfahren (1998), 125 Fotografien, je 35 cm x 45 cm, s/w

 

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Zwischenfall (2001), 125 Fotografien, je 35 cm x 45 cm, s/w

 

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Einstellung (2003-2005), 20 Fotografien, je 70 cm x 100 cm, s/w

 

   Gesellschaft, Verfahren, Individualität

von Maik Schlüter

 

  1. „There is no such thing as society”, behauptete Margaret Thatcher Ende der achtziger Jahre. „Dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gibt˝, reichte der so genannten Eisernen Lady aus, um ihre Politik einer gnadenlosen Wirtschaftlichkeit und Kälte zu legitimieren. Was Thatcher predigte, war das, was wir heute unter Neoliberalismus verstehen, also eine entgrenzte Ökonomie, die ausschließlich auf Effizienz und Produktivität ausgerichtet ist und die jede soziale und ökologische Verantwortung ablehnt. Der programmatische Ausspruch der englischen Politikerin, die aus jenem Land stammt, in dem der„Manchester-Kapitalismus˝ als Synonym für das gnadenloseste kapitalistische Prinzip gilt, bringt eine Gesellschaft der Entfremdung und Vereinzelung auf den Punkt. Wo es keine Gesellschaft gibt, da gibt es keine Verantwortung und keine Verantwortlichen, keine Gemeinschaft und keinen Gemeinsinn, sondern nur Selbstkontrolle und permanente Legitimation. Unwägbarkeiten und Verunsicherungen bestimmen das Leben. Ein derartiges soziales Gefüge kennt nur aggressiv untereinander konkurrierende Individuen, die keinem sozialen oder moralischen Ideal folgen, sondern nach dem Prinzip Jeder für sich! agieren. Der Egoismus, die wirtschaftliche Effizienz und das Prinzip des sozial Stärkeren sind die einzigen Leitlinien. Gleichzeitig wird auf diesem Wege jeder denkbare Zusammenschluss auf einer politisch aktiven Ebene verhindert. Die Gesellschaft stellt sich dar als eine fragmentarische Ordnung, bestehend aus lauter Einzelschicksalen. Der Staat wird lediglich in Form von vermeintlich notwendigen Repressionen erlebt und hat sich längst von der Idee verabschiedet, die Interessen der Bürger zu vertreten.

 

  1. Legitimation durch Verfahren ist der Titel eines Buches von Niklas Luhmann. Luhmann, der als Soziologe für eine schwer zugängliche Systemtheorie steht, beschreibt darin sehr genau, wie Gesellschaftsformen sich durch juristisch-formale Verfahren legitimieren und wie Konflikte und Ausnahmeerscheinungen des sozialen oder politischen Lebens zu abstrakten Termini zusammengefasst werden. Was hier in verkürzter Form ungreifbar klingt, wird nachvollziehbarer, wenn in einem grundsätzlichen Sinne das Verfahren als ein kaltes und prinzipielles Vorgehen begriffen wird, das keine Rücksicht auf die Unwägbarkeiten und vielfältigen Bedürfnisse eines lebendigen Organismus nimmt. Ein Verfahren ist ein Verfahren: es genügt sich selbst und bezieht seine Rechtfertigung und Logik aus Rechtsgrundsätzen, die im Ausschlussverfahren Recht und Unrecht definieren. Bestimmte Verfahrensweisen können in diesem Zusammenhang als Entsprechung der instrumentellen Vernunft verstanden werden. Diese spezielle Ausprägung der Ratio sperrt alles das aus, was ihr nicht berechenbar erscheint. Sie wird weniger vom Gedanken der Effizienz getragen als vielmehr vom Wunsch, die Welt vollends zu begreifen und zu kontrollieren. Was auf den ersten Blick wie Aufklärung aussieht, verwandelt sich in die ausgrenzenden Mechanismen von Herrschaft und Angst. Denn wer alles erklären will, der fürchtet sich vor der Unerklärbarkeit und Fremdheit der Welt. Verstand wird dann zu einem Instrument der Entfremdung. Trotz aller Entwicklungen auf den Gebieten der Naturwissenschaft und der Philosophie, der Politik und der Soziologie, der Kunst oder der Literatur bleiben weite Teile des Lebens unbeherrschbar und unkontrollierbar. Je größer und ausdifferenzierter die Unternehmungen zur Weltbeherrschung sind, desto härter und schockierender treffen uns die Katastrophen des Lebens, ob sie nun den Unwägbarkeiten der Natur oder den aggressiven und mörderischen Impulsen der Menschen selbst geschuldet sind. Erst recht, wenn die unterschiedlichen Bereiche und Organisationsformen des Lebens als voneinander getrennt wahrgenommen werden und die verwaltete Struktur jedes einzelnen Bereiches als absolut und unabänderlich erscheint. Wenn die Analyse des juristischen Verfahrens auf einer Trennung zwischen Recht und Unrecht basiert, dann stellt sich die Frage, wer diesen unterschiedlichen Status definiert. Ab einem bestimmten Punkt lässt sich nicht mehr personell, sondern nur noch systematisch und strukturell argumentieren. Juristische Verfahren folgen dann einer eigenen Logik und Dynamik: durch streng limitierte Auflagen und Normen werden sie zu statischen und undurchschaubaren Abläufen. Die Kälte und Widersprüchlichkeit der Justiz ist immer wieder Thema derer, die versuchen, durch sie zu ihrem Recht zu kommen. Gleichzeitig ist klar, dass der Vielzahl der unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansprüche nur durch ein verbindliches System der Werte und Beurteilungskriterien begegnet werden kann. Dass dieses System lediglich begrenzten Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder gar Objektivität erheben kann, steht außer Zweifel.

 

  1. Verfahren ist der Titel des ersten Teils einer bildnerischen Trilogie des Künstlers Jörg Möller. Die Arbeit besteht aus 130 Fotografien, die Möller zu einem wandfüllenden Tableau zusammenfügt. Der Titel eröffnet zwei Lesarten: erstens eine kritische Revision des Begriffs >Verfahren< im oben beschriebenen Sinne und zweitens seine Umdeutung innerhalb der eigenen Arbeit. Den gesellschaftlichen Zwangsläufigkeiten von Recht und Unrecht, von richtig und falsch widerspricht der Künstler mit seinem Vorgehen. Er fügt zusammen, was nicht zusammengehören soll, und macht deutlich, dass auch scheinbar gegenläufige Größen wie Biografie und Gesellschaft, Verbrechen und Staat, privates und kollektives Gedenken oder die Geschichte zweier unterschiedlicher politischer Systeme miteinander verschränkt sind. Seine Argumentation ist nicht chronologisch oder linear, sie lässt sich weder vom Standpunkt des Historikers noch aus soziologischer Perspektive schlüssig herleiten. Das Verfahren, das Jörg Möller anwendet, widerspricht dem offiziellen Kanon von Geschichtsschreibung und gesellschaftlicher Analyse. In den fein säuberlichen Trennungen, die dieses offizielle Selbstverständnis hervorbringt, werden die Verantwortlichkeiten brav aufgeteilt und für jede Wirkung die richtige Ursache gefunden. Möller reiht jedoch Bilder aneinander, die widersprüchlicher nicht sein können: Fotografien von offiziellen Staatsakten hängen neben Fotografien aus der Kindheit, unscharfe Konturen von Gegenständen treffen auf ein Fahndungsfoto, Landschaftsaufnahmen werden grauen oder schwarzen Flächen gegenübergestellt. Biografische Details eines Lebens in der DDR kontrastiert der Künstler mit Bildern der jüngeren BRD-Geschichte.

 

Dem vermeintlich sicheren und ideologisch sinnvollen Weg eines jungen Menschen im Sozialismus  als Pionier, FDJler oder Sportschüler und später dann, als aufgeklärter Staatsbürger, widerspricht Jörg Möller. Es tritt hier ein Bewusstsein zu Tage, das nicht erst nach dem Zusammenbruch einer gesellschaftlichen Ordnung kritische Rückschau hält, sondern schon im akuten Zustand unter den Vorschriften und Zwängen leidet. Dass dieser Zwang nicht einseitig oder gar ausschließlich ideologisch herzuleiten ist, wird dann deutlich, wenn Möller die dunklen Flecken der BRD-Geschichte thematisiert und in seine Arbeit einbezieht. Er greift zunächst auf die gesellschaftspolitische Realität der siebziger Jahre zurück und beschäftigt sich mit dem so genannten Deutschen Herbst und den gesellschaftlichen Nachwirkungen. Terrorismus und staatliche Repression, wie sie in Bildern dokumentiert sind, finden Eingang in die Installation. Von hier aus fügen sich die Koordinaten seiner Biografie, die beide Systeme kennen gelernt hat und ins Verhältnis setzt, zu einem kritischen Gesamtbild. Auf der Grundlage dieser gleichsam subjektiven und suggestiven Verkürzung lässt sich dann in einer Bewegung vom Pioniernachmittag und der Entlassung Irmgard Möllers, der Jugendweihe und der Verhaftung Ulrike Meinhofs, dem Hauptgebäude des MfS oder der Erinnerung an einen Kinderkarneval sprechen. Dieser assoziative Zusammenhalt der Bilder bestimmt die gesamte Arbeit und umfasst zeitlich das Lebensalter des Künstlers. Der Kontrast zwischen sozialistischer Lebensweise und den Untiefen einer kapitalistischen Gesellschaftsform ist gleichzeitig Anlass, über die neu entstandene Gesellschaft nachzudenken und auf die politischen und sozialen Widersprüche der neuen Republik zu verweisen.

 

Neben den Bildern besteht die Arbeit auch aus einer installativen Ergänzung. Einfache Holzpritschen stehen dem Tableau gegenüber. Diese rudimentären Schlafgelegenheiten erinnern zunächst an die Schlafsäle einer Kaserne, stammen jedoch tatsächlich aus einem Kinderhort. Die Pritschen sind alles andere als bequem und lassen keine positiven Assoziationen zu deren Funktion und Qualität zu. Die Tatsache, dass die Schlafgelegenheit aus einer Ostberliner Schule stammen, steht weniger für eine explizite Kritik an der viel gescholtenen DDR-Pädagogik als vielmehr für einen weiteren biografischen Rückgriff auf die Geschichte des Künstlers. Möller erweiterte diesen Bezug allerdings durch zwei Schritte. Erstens stellte er Freunden, die allesamt in der DDR aufgewachsen sind, zwei optional zu beantwortende Fragen 1. An welcher Stelle Deiner Biografie bist Du angekommen? Oder 2. Wie zufrieden bist Du mit deiner Biografie? Zweitens schuf er eine fiktive Maßeinheit, die die jeweilige Antwort und damit den privaten Stand der befragten Person messbar und sichtbar machte: Möller bot als Maßeinheit eine Skala von 0–100 an, die er mittels Grautönen visualisierte (0 = weiß und 100 = schwarz). Für Möller ergab der ermittelte Grauwert den biografischen Stand der Person an. Diesen Grauwert übertrug er dann auf jeweils eine der Pritschen, indem er sie mit dem entsprechend belichteten Fotopapier kaschierte. Zum einen verweist Möller deutlich darauf, wie sehr die Einflüsse und Erfahrungen der ersten Lebensjahre die Persönlichkeit und den möglichen Lebensweg prägen. Gleichzeitig löst er aber die einfache Vorstellung auf, dass es mit dieser psychologischen Grundformel möglich ist, eine allgemeingültige Aussage zu treffen. Die psychologische Analyse kann immer nur in der individuellen Anwendung zum Tragen kommen und entsprechende Ergebnisse liefern. Konkret bedeutet dies für die Arbeit von Möller, die ja immer das Spannungsfeld zwischen privater Lebenswirklichkeit und einer bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Systematik thematisiert: Ein Leben als DDR-Bürger zu beginnen, um dann nach 1989 mit dem neuen Pass der BRD ausgestattet zu werden, lässt keine einfachen Rückschlüsse auf Menschen und deren Vorstellungen und Möglichkeiten zu. Die Graustufen zeigen, wie individuell, wie unterschiedlich die Empfindungen und Beurteilungen sind. Einer ideologische Argumentation, die Vorurteile zementiert und Biografien verzerrt und verurteilt, tritt Möller mit viel Gespür entgegen.

 

Die Arbeit Verfahren lässt sich auch mit dem Begriff der Erinnerung beschreiben. Jede Erinnerung ist wandelbar, trügerisch und hängt von der momentanen Verfassung des Einzelnen ab. Verdrängen, Hervorheben, Beschönigen, Verzerren, Erfinden, Rekonstruieren oder Vergessen sind unabänderliche Begleiterscheinungen jeder Rückschau. Jörg Möller begibt sich mit seiner bildnerischen Fiktion auf die Spuren einer individuellen Geschichte, die er dezidiert mit den gesellschaftlichen Fakten seiner Lebenserfahrung abgleicht. Er sortiert nicht nach richtigen und falschen Erinnerungen und bemüht sich erst gar nicht, eine offizielle Variante der Geschehnisse zu erzählen. Auch wenn die Bilder allesamt eine Melancholie und Poesie ausstrahlen, sind es doch immanent politische Bilder, die er zu Tage fördert. Es ist kein Zufall, dass der Fotograf uns sportliche Aktion als erbarmungslose Disziplinierung vorführt oder die Großmutter als sozialistische Fahnenträgerin abgebildet ist. Der Begriff der Individualität, belegt durch Schnappschüsse aus dem Familienalbum, wird im großen Schwarz-Weiß-Raster als durch und durch widersprüchlich dargestellt. Eben weil die Geschichte des Einzelnen untrennbar mit der gesamten Entwicklung einer Gesellschaft verbunden ist. Das Verdikt von Margaret Thatcher, in diesem Zusammenhang als prägnantes Sinnbild für die Härte und Absolutheit einer politischen Verantwortungslosigkeit gewählt, wird angesichts der Arbeit vom Kopf auf die Füße gestellt. Jörg Möller belegt, „dass es so etwas wie Gesellschaft gibt˝ und dass die politische und ökonomische Forderung nach einem singulären und selbstverantwortlichen Individuum, das einzig über vage arbeitsrechtliche Vereinbarungen und labile familiäre Bindungen sozial funktionalisiert ist, nicht mehr als eine menschenverachtende Ideologie ist. Gerade in der Arbeit Verfahren wird deutlich, wie das gesellschaftliche Klima durch die politischen Verordnungen beeinflusst ist und wie die sozialen Kompromisse jeden Einzelnen durchdringen und deshalb gleichzeitig von jedem mitgetragen werden. Egal, in wessen Namen, Geschichte oder Dialektik argumentiert wird. Der Künstler bezieht sich auf die soziale und administrative Gewalt, die gesellschaftlichen Ausschlussverfahren und Eingrenzungen oder die banalen Repressionen des Zusammenlebens.

 

Jörg Möller, der immer biografisch argumentiert, hat zwei konträre politische Systeme nacheinander kennen gelernt. So plötzlich der Einbruch der kapitalistischen Demokratie der BRD in den Staatssozialismus der DDR auch gewesen sein mag, so langsam vollzog sich der tatsächliche Wechsel. Zeit genug für einen sensiblen Beobachter, seine Erfahrungen kritisch auszuwerten. Verfahren ist 1998, knapp zehn Jahre nach dem Mauerfall, entstanden und der erste Teil einer Trilogie, deren zweiter Teil Zwischenfall 2001 entstand und die mit der Arbeit Einstellung 2005 ihren Abschluss gefunden hat. Alle drei Teile sind alles andere als nostalgisch. Die Grauzonen eines widersprüchlichen gesellschaftlichen Wandels sind darin aufgehoben. Vom scheinbar unbedeutenden Blick auf ein Stück Natur bis hin zum erkennungsdienstlichen Merkmal eines Fingerabdrucks zeichnet Möller auf der Folie seiner Biografie ein allgemeines Lebensbild, das durch Angst und Druck, durch Beherrschung und Verweigerung, durch Flucht ins Private und durch öffentliche politische Auseinandersetzung, durch Zusammenbruch und Aufbruch geprägt ist. Dieses Leben findet seinen Widerhall im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Die einfache Wahrheit wird bei ihm zu einem dichten und komplexen Abbild der Wirklichkeit. Sein „Verfahren“ ist ein individuelles, die Beweisführung möglicherweise irreführend und manche Aussage falsch. Die Arbeit ist jedoch kein Gerichtsverfahren, wir haben es nicht mit Anklage und Verteidigung zu tun, schon eher handelt es sich um eine Spurensuche. Der Künstler exponiert sich nicht außerhalb der Gesellschaft, er zeigt nicht mit dem Finger auf andere und versucht nicht, deren Ansprüche und Bedürfnisse zu systematisieren und zu verurteilen. Dennoch übt er Kritik. Der Ausgangspunkt dieser Kritik ist er selbst, das Ziel ist die gesellschaftliche Ordnung.