Nullmeridian (2011-2013)

Titelbild

 

Die Suche nach der verlorenen Zeit

Das Eisenkreuz mit Rettungsring zwischen den Steinplatten am Meeresufer wird zum Symbol vorm tiefen Horizont. Ein Fernwehzeichen, unübersehbar ein Romantikermotiv, auch, weil der Ring über den Horizont ragt, als etwas, das in die Ferne weist – zugleich auf den Betrachter zurückfällt, ihn verortet. So hat einst Caspar David Friedrich seine Gestalten auf Rügen oder am Greifswalder Bodden vor den Horizont über der Ostsee gesetzt.Am Eisenstab unterm Rettungsring baumelt ein weißer Beutel, als hätte darin irgend jemand Unsichtbares seinen Proviant fürsorglich vor der Nässe geschützt, womöglich ein paar trockene Sachen deponiert, weil er kurz mal Schwimmen gegangen ist. Ein Zeichen, um sich an den eigenen Gedanken festzuhalten?Die Bilder des Berliner Fotografen Jörg Möller richten eine Menge Fragen an den Betrachter: Wie bloß lässt sich das Grundgefühl beschreiben, das man vor diesen Aufnahmen hat? Rätselhaftigkeit? Irritation? Je länger man vor den Bildern steht, desto mehr fühlt es sich an, als verzögere sich mit einem mal die Zeit – Entschleunigung auf dem Fotopapier..Die Galerie Bernau beschließt mit der Ausstellung „Nullmeridian“ des 43-jährigen Berliners ihr Jahresprojekt „Weltinnenraum“, benannt nach dem gleichnamigen Gedicht von Rilke. Möller überrascht uns mit Bildern, die gleichsam vom Ende der Welt erzählen, aber die Motive erscheinen kryptisch; es gibt keine eindeutigen Bildbotschaften, keine ganzen Geschichten. Nur Andeutungen, Anstöße, sich Eigenes zusammenzureimen.Da ist nur die Silhouette eines Berges, der sich als Dreieck in den diffus grauen Himmel schneidet. Da ist nur ein Weg, der urplötzlich im Nichts endet und nur ein Seil, das wie ein Ariadnefaden, vom Sandlabyrinth des Strandes ins ungewisse Meer führt und ungesagt lässt, ob etwa, an Land oder im Wasser, ein Boot daran vertäut ist.Da ist nur ein Schaukelstuhl, der fast gespenstisch auf ortlosen Dielen schaukelt. Da ist nur ein Baum – oder im harten Kontrast des Schwarzweiß-Fotos die Form eines Baumes – der in die Wolken stößt. Da ist nur ein Kopf, der sich seitlich und surreal in den Schatten dreht. Und es ist da nur ein Gewässer, das an die scharfe Horizontlinie stößt.Ist es das Weltende? Kommt hierher der Lärm der Welt, um zu sterben? Es ist die Sprache der Zeichen, die Möllers Fotografie bestimmt. Es sind die unbestimmten, auch unbenennbaren Codes eines poetischen Ausstellungsessays, einer offenen Erzählung ohne Anfang und ohne Ende. Etwas, das nicht etwa chronologische Dokumentation, Report oder gar Lebensbilanz sein möchte, sondern lediglich den Zwischenstand einer fotografischen Suche nach der verlorenen Zeit, nach dem Entschwundenen und womöglich nach dem Ende der Welt markiert.Als sich die Menschen ihre Erde noch als Scheibe vorstellten, da musste es ja irgendwo an deren Rand ein Ende der Welt geben. Viel später haben die Europäer den wildesten Ort der Bretagne so benannt: Finistère. Von diesem verwunschenen französischen Ort stammen etliche der Aufnahmen Möllers.Ein Kunstwerk müsse deshalb eine gewisse Undefiniertheit haben; damit jeder daran seine eigene Geschichten, seine eigenen Erinnerungen festmachen könne. Ein gutes Kunstwerk bestehe demnach zu drei Vierteln aus den Emotionen dessen, der es anschaut. Ein Franzose, der Künstler Christian Boltanski, hat das gesagt. Ja, aus der Sicht unseres Inneren ist es wirklich anders: Wir sind da nicht auf unsere Gegenwart beschränkt, sondern weit ins Vergangene zurück ausgebreitet, das kommt durch unsere Gefühle. Gefühle kennen keine Zeit.Es sind die nichterzählten Beiläufigkeiten, die auf Möllers Bildern eine so unerhörte, ja geradzu mystische Aufladung erfahren. Da wird Simples auf einmal bedeutsam – Niemandsland: ein Geröllhaufen, eine Straße, die im Nichts endet, ein gurgelder Gully, der zum Spiralnebel wird. Oder ein weißer Fleck, vormals vielleicht ein Fetzen Papier, das vom Wind herumgewedelt wird. Spuren auf dem Asphalt werden zu abstrakter Grafik.Dahinter steckt kein Konzept, nicht einmal ein irgendwie gesteuertes Experimentieren. Diese Bilder geben die von dem Berliner Fotokünstler so geduldig wie manisch gesuchten und glücklich entdeckten Zufälle wieder. Und dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Fixierung einer Form für das unaufhaltsame – gnadenlose oder auch gnadenvolle Verstreichen von Zeit – und um die Abnutzung der Dinge in ihrer Zeit. Da ist die Botschaft: Wir leben hier und jetzt, alles, was vorher war und an anderen Orten, das ist Vergangenheit, meist vergessen und als kleiner Rest noch zugänglich in ungeordneten Splittern und Erinnerungen, die in rhapsodischer Zufälligkeit aufleuchten und wieder erlöschen.Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer. Das steht unsichtbar in Möllers realen, fiktiven, gegenständlichen und abstrakten Aufnahmen geschrieben. Man darf sagen: Das ist Fotografie, die sich mit Philosophie verbandelt hat. „Die Zeit ist vorbei, in der es auf die Zeit nicht ankam. Der heutige Mensch arbeitet nicht mehr an dem, was sich nicht abkürzen lässt“, schrieb Walter Benjamin.Nicht zuletzt ist diese Ausstellung quasi der Abschluss aller fiktiv biografischen Arbeiten, die der Fotograf seit Ende seiner Meisterschülerzeit an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig 2003 beschäftigten. Es geht ihm ums Nachdenken über die Zeit und die Endlichkeit des Lebens. Und in die Ausstellung hinein reicht die Perspektive „von früher“ – wie dieses Früher für ein Kind oder für einen Jugendlichen gewesen sein könnte. Dafür breitet er Ausschnitte aus alten Fotografien aus. Damals konnte das Ende der dem kleinen Jungen bekannten Welt schon ein Gartenzaun oder ein Wald gewesen sein. Heute ist es der Horizont des Atlantik oder der Gipfel eines kanarischen Berges.Unter „Nullmeridian“ fasst Jörg Möller alle Bildsequenzen zusammen, die mit dem Ablauf von Zeit zu tun haben und mit dem, was dazu vor dem „inneren Auge“ abläuft. Man könnte meinen, dass Erinnerungsbilder in die Dunkelheit entschwinden. Im Gegensatz dazu steht das Licht – die weiße Fläche – wenn die letzten Bilder verlöscht sind, die jemand vielleicht noch einmal sieht, bevor er in eine andere Situation eintritt.Die Orte auf diesen Fotos bleiben namenlos. Es ist dem Fotografen nicht wichtig, zu benennen, wo er schon überall auf der Welt gewesen ist. Denn es sind vor allem seine Reisen ins eigene Innere. Ein Fernweh eigener Art, zu dem wohl der lakonische Satz aus dem Film „Die Frau des Leuchtturmwärters“ passt: „Die Welt hat noch andere Enden. Sie finden schon eins.“

Ingeborg Ruthe