Wiederaufnahme (2009)

 

Polizeikontrolle

Es gibt keine Gesellschaft ohne Gewalt. Das Gesetz ist ein Regelwerk der Machterhaltung, der Autorität und der Kontrolle. Eine abstrakte Garantie. Die Androhung einer konsequenten Strafverfolgung soll Gewalttaten verhindern. Für die meisten Menschen reicht die unsichtbare Drohkulisse von Kontrolle und Strafe aus, um den Status quo der Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten. Aber man täusche sich nicht: nicht das Wohl der anderen ist das Motiv, sondern ein gezügelter und gelenkter Selbsterhaltungstrieb. Egomanie und Angst paaren sich zu einer bizarren Form des individuellen Konformismus. Diese Anpassungsleistung bedeutet, dass man nicht gewillt oder fähig ist, etwas anderes für den zivilgesellschaftlichen Rahmen zu tun, als stillzuhalten oder wegzuschauen. Die Drecksarbeit wurde delegiert. Gewalttaten geschehen in den Katakomben der öffentlichen Ordnung. Dorthin schickt die Gesellschaft mit Uniformen verkleidete Figuren, die entweder Köpfe einschlagen oder ihre Köpfe einschlagen lassen. Dann werden Fragen gestellt und der Tathergang rekonstruiert. Dann fährt die Staatsanwaltschaft vor. Das bedeutet aber noch lange nicht, das ermittelt wird. Es werden Dinge getan, das ist richtig. Und wenn ermittelt wird, fragt man sich häufig in wessen Namen und mit welcher Absicht die Kriminalisten tätig werden. Und wie es dazu kommen kann, dass z. B. unberechtigtes Eindringen in Privatwohnungen, Schläge, rassistische Beleidigungen und Zerstörung von Möbilar nicht Rechtsbeugung, Körperverletzung und Sachbeschädigung ergeben, sondern einfach nichts.

Es gibt keine klaren Trennlinien zwischen den Guten und den Bösen, den gesellschaftlichen Mächten und dem Einzelnen. Es gibt Raster, Grundhaltungen, psychische Parameter, Vorstellungen und Forderungen, Ressentiments und Antagonismen. Nichts ist Zufall. Die Prämissen der Gesellschaft kommen überall zum Ausdruck: im Detail, im Nebensächlichen, im Privaten, in scheinbar neutralen Worten, Verhaltensformen und Kategorien. Ein Spiegel und ein Schwamm, das ist die Gesellschaft, das ist jeder Einzelne. Die Gesellschaft befindet sich in einem inzestuösen Zustand, da ihre Grundwerte beständig legitimiert werden müssen. Legitimation durch Fiktion. Kriminalkultur: Gewaltexzesse aller Art im TV-Police-Procedural oder im Roman. Hier wird gequält, geschlagen, gemordet, entführt, missbraucht, gedemütigt, Angst verbreitet, eingeschüchtert. Die Polizisten sind Menschen mit Schwächen: ängstlich, orientierungslos, aggressiv, unfähig, spröde, verklemmt etc. Ein Register des täglichen Versagens, das jeder im Spiegel betrachten kann. Recht und Ordnung, Kontrolle und Repression, Strafen und Konsequenzen werden vereinheitlicht und auf das Niveau persönlicher Reiz-Reaktions-Schemata niedergedrückt. Und das, obwohl hier die höheren Mächte der Justiz und der Polizei ihre Vollmachten anwenden. Kräfte also, denen man so gut wie nie personalisiert oder privat begegnet, sondern immer nur in Form von bürokratischen Schutzschildern und justiziablen Über-Ich-Kategorien.

Polizeigewalt ist gesellschaftlich legitimierte Gewalt. Wer kontrolliert die Polizei? Polizisten, die andere Polizisten kontrollieren und disziplinieren, sind unbeliebt bei Polizisten, die kontrolliert und diszipliniert werden. Die Hierarchie einer geschlossenen Abteilung, die sich noch mehr zum Elite-Ausschluss-Verfahren stilisiert, je mehr Männer im Raum und im Spiel sind. Ein Kodex ist kein Ehrenkodex. Ein Ehrenkodex hat nichts mit Ehre, aber mit Gewalt und Isolation zu tun. Gewalt: Anonymisierung von Verbrechen durch: 1. Gruppenhandlungen und nachfolgenden Schweigezwang, 2. Kollektive Ekstase und individuelle Scham, 3. Ich-Schwäche-Kompensierung durch Formatierung zu Zügen, Kompanien und Einheiten, 4. Grundsätzliche Gewaltbereitschaft durch gesellschaftliche Konditionierung und geschlechts-spezifische Erwartungshaltung im Sinne von Stärke/Schwäche-Schemata. Wer kontrolliert die Kontrolleure? Freiwillige Selbstkontrolle von Süchtigen endet in Strategien der Verschleierung: Exzesse werden als Ausnahme gedeutet, kleine Dosen der Giftzufuhr für kontrollierbar gehalten. Selbsttäuschung und Lüge. Wer interessiert sich für die Kontrolle, wenn Einvernehmen herrscht: 1. über die Form der Gewaltanwendung, 2. über die Rolle der Opfer, 3. über die Rechtmäßigkeit der Motive der Täter, 4. die Undurchdringlichkeit der eigenen Triebe.

Misstrauen ersetzt Vertrauen. Wo Vertrauen zerstört wurde herrschen Angst und Unsicherheit. Strategien der Angsterzeugung und systematische Verunsicherung. Vernichtungsangst in allen Schattierungen. Die Angst, verfolgt und überwacht zu werden, gehört in das Repertoire psychischer Erkrankungen: Paranoia / Verfolgungswahn. Der Feind hört mit, ist immer anwesend. Geheimpolizei und Staatssicherheit. Abwesenheit von Kritik. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Jedes technische Gerät, jedes Kabel, jeder Schacht, jede Funkwelle, jeder elektrische Impuls kann Gegenstand einer potenziellen Manipulation sein. Unschuldigen Personen werden Funktionen und Handlungen unterstellt. Was der Staat generell und ungestraft tun darf, wird in der paranoiden Projektion zum Gefängnis. Panikattacken. Beklemmung. Ausweglosigkeit. Innere Wirklichkeit. Äußere Wirklichkeit. Lauschangriffe und Videoüberwachungen, Personenkontrollen, Biometrik, Raster- und Schleierfahndung. Wirksamkeit erlangen diese Maßnahmen durch Geheimhaltung. Die Unterstellung von Paranoia verschiebt die Beweislast von der Institution auf den Einzelnen. Ausnahmen werden zur Regel erhoben. Abhängigkeiten. Willkür. Bürokratie. So langsam wie die bürokratischen Mühlen mahlen, so schnell lässt sich ein Bedrohungsszenario erfinden. Die Biochemie der Panik: 30 Sekunden bis zum Kollaps. Der Countdown der Überwachung dagegen wird gleichmäßig gezählt. Der schmale Grat der Angst ist auf der einen Seite extrem steil und auf der anderen gefährlich abschüssig.

Raub, Brandstiftung, Prostitution, Straßenkrawalle, Rauschgift, Mord. Es ist die Kultur selbst, die Gewalt und Verbrechen hervorbringt. Gewalt bildet das Zentrum aller Kultur. Abgrenzungs- und Unterdrückungsmechanismen. Ein temporärer Frieden wird durch Aufrüstung aufrechterhalten. Je höher die Tabuschwelle, desto intensiver die Gewalt. Polizeiarbeit kann zwar systematisch, aber niemals friedfertig sein. Frieden ist eine Kriegspause. Niemand kann beständig in die Schlacht ziehen. Ein Gegenpol findet sich im sublimierten Kosmos der sozialen Spielregeln und der beflissenen Formen des zivilen Umgangs. Wer abgedrängt ist, muss sich seinen Platz erkämpfen. Soziale Kämpfe sind Kulturkämpfe. Die soziale Randstellung ist das Ergebnis einer nicht befriedeten Gesellschaft. Ausschlussverfahren garantieren Exklusivität. So vielgestaltig die Produkte der Kultur und Sozialität sind, so facettenreich sind die Formen der Gewalt und der Destruktion. Kulturelle Gewalt wird zu tradierter Gewalt, wird zu institutionalisierter Gewalt. Moral ist ein System von unterschiedlichen Garantien, die wankelmütig ausgelegt werden können. Versprechen auf Zeit. Gewalt ist Gewalt. Die Polizei verkörpert in der Gesellschaft keine friedfertig-neutrale Ordnung. Ausbrüche von Gewalt auf Seiten von Uniformierten manifestieren die grundsätzliche Gewaltbereitschaft der Gesellschaft und der Individuen.

Maik Schlüter, 2009